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„Wir müssen lernen, mental stark zu bleiben“

Bensheim | 29. Oktober 2025 Gewalt gegen Einsatz- und Rettungskräfte nimmt bundesweit zu. Laut dem Bundeskriminalamt erreichte die Zahl der Übergriffe 2023 einen neuen Höchststand – betroffen sind vor allem Polizei, Feuerwehren und Rettungsdienste. Diese Entwicklung zeigt, wie wichtig es ist, Einsatzkräfte im Umgang mit Extremsituationen zu stärken – mental, kommunikativ und praktisch.

Vor diesem Hintergrund lädt die Stadt Bensheim ausschließlich Einsatz- und Rettungskräfte zu einer Flächenschulung ein: am 4. und 5. November 2025, jeweils um 19 Uhr im Parktheater. Eingeladen sind die Feuerwehren, das Technische Hilfswerk, die Stadtpolizei, das Deutsche Rote Kreuz sowie weitere Hilfsorganisationen. Interessierte, die direkt im Einsatzgeschehen tätig sind, können sich über die Führung ihrer jeweiligen Hilfsorganisationen anmelden.

Im Mittelpunkt steht das Thema „Mental fit bleiben in Extremsituationen – Deeskalationstraining für den Einsatzalltag“. Die Teilnehmenden lernen, Konflikte frühzeitig zu erkennen, Situationen realistisch einzuschätzen und in angespannten Momenten sicher zu handeln. Darüber hinaus geht es um mentale Stärke und Resilienz – also darum, auch nach belastenden Einsätzen gesund und motiviert zu bleiben.

Geleitet werden die Schulungen von Hermann Zengeler, Geschäftsführer von Brand Punkt. Er blickt auf über 40 Jahre Einsatzerfahrung zurück als langjähriger Stadtbrandinspektor in Bad Soden, Kreisbrandmeister im Main-Taunus-Kreis sowie Pressesprecher. Im Interview erklärt er, warum Deeskalation heute wichtiger ist denn je – und was Einsatzkräfte aus dem Training für sich mitnehmen können.

Herr Zengeler, warum ist das Thema Deeskalation und ein entsprechendes Training heute wichtiger denn je?

Hermann Zengeler: Die Frage ist eigentlich leicht zu beantworten. Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – insbesondere, was Kommunikation und den gegenseitigen Respekt betrifft. Der Respekt vor der Uniform, wie es ihn früher einmal gab, ist weitgehend verschwunden. Ich bin seit 1969 bei der Feuerwehr und kann diese Entwicklung sehr gut beurteilen.

Früher war es selbstverständlich, dass man freundlich empfangen wurde – es gab Kaffee und Kuchen, wenn man irgendwo ankam. Heute wird sich beschwert, weil wir mit dem Einsatzfahrzeug vor einer Einfahrt stehen.

Das allein wäre schon problematisch genug. Aber die Situation ist komplexer: Denken Sie an die Vorfälle zu Silvester in Berlin – solche Angriffe auf Einsatzkräfte passieren nicht nur dort, sondern bundesweit, auch in Österreich, wo ich ebenfalls tätig bin. Überall zeigt sich dasselbe Bild.

Hinzu kommen steigende Belastungen: weniger Personal, dafür deutlich mehr Einsätze. In den vergangenen 20 Jahren sind die Mitgliederzahlen bei den Feuerwehren um rund elf Prozent gesunken, während die Einsatzzahlen um etwa 50 Prozent gestiegen sind. Diese Kombination aus gesellschaftlichem Wandel und wachsender Belastung führt dazu, dass Feuerwehrleute angespannter werden und ihre psychische Widerstandskraft – also die Resilienz – leidet.

Wie wirkt sich diese Entwicklung Ihrer Erfahrung nach auf die Motivation der Einsatzkräfte aus?

Zengeler: Ganz klar negativ. Wenn die äußeren Belastungen steigen und gleichzeitig der Rückhalt aus der Gesellschaft schwindet, dann zehrt das an der Motivation. Genau deshalb brauchen wir neue Strategien – vor allem im Bereich Kommunikation und Deeskalation.

Was können die Teilnehmenden aus Ihrem Training konkret mitnehmen – für den Einsatzalltag, aber auch für sich persönlich?

Zengeler: Zunächst geht es um Grundlagen: Wir betrachten, warum Gewalt bei Einsätzen überhaupt entsteht und welche Faktoren dahinterstehen. Leider können wir die Gesellschaft selbst nur begrenzt verändern – aber wir können lernen, besser damit umzugehen.

Deshalb arbeiten wir daran, uns selbst vorzubereiten: Wir klären, was überhaupt eine Straftat ist, und warum bestimmte Verhaltensweisen, die Einsatzkräfte erleben, nicht mit unseren gesellschaftlichen Normen vereinbar sind – weder rechtlich noch moralisch.

Wenn wir erkennen, dass wir die Gesellschaft nicht ändern können, müssen wir anfangen, uns selbst zu verändern. Das bedeutet: Wir müssen unsere Resilienz stärken und eine klare Deeskalationsstrategie entwickeln. Kommunikation ist dabei das zentrale Stichwort.

Wenn wir das schaffen, können wir Feuerwehrfrauen und -männer nicht nur motiviert, sondern auch gesund halten. Denn mangelnde Resilienz wirkt sich nachweislich auf die Gesundheit aus. Studien zeigen, dass rund 70 Prozent bestehender Erkrankungen und etwa 35 Prozent aller Krankheiten in Deutschland heute psychisch bedingt sind.

Das klingt nach einem ganzheitlichen Ansatz – also nicht nur fachlich, sondern auch persönlich wirksam?

Zengeler: Ganz genau. Die Teilnehmenden nehmen nicht nur Werkzeuge für den Einsatzalltag mit, sondern auch Strategien, um privat gelassener, stabiler und selbstbewusster mit Stress umzugehen.

Sie haben selbst über 10.000 Einsätze erlebt – was hat Sie persönlich motiviert, heute Deeskalationstrainings anzubieten?

Zengeler: Ich war über 40 Jahre im Öffentlichen Dienst, 25 Jahre als Feuerwehrchef, zum Schluss in leitender Funktion als linke Hand des Bürgermeisters mit 100 Mitarbeitenden. Jährlich sind wird rund 400 bis 500 Einsätze gefahren. Da sammelt man viele Erfahrungen.

Leider gehören auch schwere Erlebnisse dazu. Zwei Feuerwehrleute aus meinem Team sind gestorben – einer im Einsatz, einer durch Suizid. Das hat mich tief getroffen. Ich selbst bin in dieser Zeit psychisch erkrankt, habe eine Therapie gemacht und mich gefragt: Warum redet eigentlich niemand darüber?

Das war der Wendepunkt. Ich habe daraufhin eine therapeutische Ausbildung absolviert und mir vorgenommen, das Thema psychische Gesundheit und Deeskalation in die Feuerwehren und Hilfsorganisationen zu bringen.

Heute kommen sogar Stadtverwaltungen und Staatsanwaltschaften auf mich zu und sagen: Wir halten den Stress nicht mehr aus. Das zeigt, dass das Problem weit über die Feuerwehr hinausgeht. Genau deshalb habe ich mich nach meiner aktiven Zeit entschlossen, mich selbstständig zu machen und diese Themen in die Hilfsorganisationen zu tragen, die tagtäglich unter hohem Druck arbeiten.

Wie können Einsatzkräfte auch nach belastenden Einsätzen mental stark bleiben?

Zengeler: Einsatzkräfte müssen mental stark bleiben – aus zwei Gründen: Erstens, um gesund zu bleiben, und zweitens, um motiviert zu bleiben. Denn wir machen diesen Job in der Regel ehrenamtlich, also ohne finanzielle Anreize. Die Motivation muss daher von innen kommen – intrinsisch.

Wichtig ist, dass Angebote wie psychosoziale Notfallversorgung oder Kriseninterventionsteams mehr Akzeptanz finden. Leider ist das Thema psychische Belastung in vielen Feuerwehren noch ein Tabu.

Darum setzen wir mit „Brand Punkt“ auf Prävention: Wir gehen frühzeitig rein, also vorher, bevor etwas passiert. Feuerwehrleute werden körperlich, technisch und taktisch hervorragend ausgebildet – aber nicht mental. Genau das möchte ich ändern.

Was wünschen Sie sich langfristig für die Feuerwehren und Hilfsorganisationen?

Zengeler: Ich wünsche mir, dass mentale Stärke als genauso wichtig betrachtet wird wie körperliche Fitness oder technische Ausbildung. Wenn wir das schaffen, bleiben unsere Einsatzkräfte langfristig gesund, belastbar und motiviert.

Weitere Informationen in der Pressemitteilung vom 6. Oktober 2025.

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